Travelogue

Was es heisst, fremd zu sein –
Julia Kristevas Fremde sind wir uns selbst

Während ihrer Bachelorarbeit, in deren Zentrum eine Reise nach Polen stand, führte Anna Studer ein Gespräch über das Fremdsein mit Iza, einer jungen Migrantin die seit einiger Zeit in der Schweiz lebt:

 

„…Ich fühle mich immer noch fremd. Ich weiss nicht, ob es überhaupt möglich ist, dass sich dieses Gefühl ändert. Auch wenn ich einmal gut Deutsch oder sogar Dialekt spreche, werde ich immer noch eine Fremde sein. (…) Ich bin mir bewusst, wie wichtig es ist, sich auf seine Integration zu konzentrieren. Doch da mir momentan die Sprache als wichtigstes Werkzeug noch fehlt, scheint es mir manchmal einfach erdrückend. Ich habe viele Schweizer kennen gelernt, die nett sind und mir sehr helfen. Doch es ist sehr einfach, sich der Gruppe der anderen Immigranten anzuhängen. Du lebst in einer Art Phantom-Stadt, einer Stadt, die nur eine Illusion ist. Du fühlst dich zwar am hiesigen Gesellschaftsleben beteiligt, doch sobald du einmal um dich schaust, siehst du ein paar Engländer, einige Spanier, Inder, Russen und natürlich Polen. Wenn man Glück hat, dann trifft man in der Gruppe von zwanzig Leuten einen oder zwei Schweizer. Doch sobald diese farbenfrohe Blase aufbricht, erkennst du, wie wenig du (über die Einheimischen) weisst.“  (Studer, 2012)

 

Je mehr die Zahl der Fremden in unseren Gesellschaften durch Migration und Flucht zunimmt, umso wichtiger wird, zu verstehen, was Fremdsein bedeutet. Denn es wird eine wesentliche Aufgabe sein, unsere Welt in einer Form zu gestalten, in der Fremde gut und friedlich miteinander leben können, ohne dass Differenz nivelliert wird – im Respekt vor der Andersartigkeit des Eigenen wie dem Anderen in der eigenen Identität. Dies betrifft auch die Aufgabenfelder des Designs!
Die oder das Fremde zu erkunden bedeutet immer auch, das Eigene zu erkunden und schliesslich die eigene Identität um „das Andere“ zu erweitern. Psychoanalytisch gesehen ist das, was wir als fremd erleben, ein unbekanntes Land in der eigenen Seele. Julia Kristeva, Psychoanalytikerin in der Tradition Lacans beschreibt in Fremde sind wir uns selbst im ersten Kapitel nah und dicht, was es heisst, Fremde zu sein: Glück, Schmerz, Ausgrenzung, Freiheit. Dieser Text inspiriert, sich auszusetzen und Fremdheit selbst zu erleben. Dann fällt es leichter, die Andere, Fremde zu verstehen und sich in sie hineinzuversetzen. „Das Fremde entsteht, wenn in mir das Bewußtsein meiner Differenz auftaucht, und es hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen. (Vgl Kristeva 1990, 11).
Dieses erste Kapitel ist eine Phänomenologie des Fremdseins und voll von tiefen Denkanstössen. Ein guter Ausgangspunkt für eine autoethnographische Recherche oder ein Reisetagebuch, das sich der Erfahrung des Fremdseins und der Frage widmet, was eigentlich als das Eigene und was das Fremde empfunden wird. Und wie sich das ändern kann.

 

Julia Kristeva (1990). Fremde sind wir uns selbst.