Travelogue

Was notieren?

“Sonntag, früher Morgen. Die Strassen sind noch leer, denn in Indien ist mal wieder ein Festival – die Trommeln waren bis in den frühen Morgen zu hören. Ich fahre mit einem Freund auf den Markt, um Fisch zu kaufen. Um uns herum türmen sich Berge von Ingwer und Knoblauch, Trauben und Bananen, Granatäpfeln und Papayas. Ein Markt in Asien – beliebtes Fotomotiv fast aller Reisenden hier. Die Motive sind schon fast ikonographisch: Männer und Frauen in ärmlicher bunter Kleidung mit weissen Zähnen, auf dem Boden sitzend hinter Gemüseberg. Dann fällt mein Blick auf ein Baby, ungefähr so alt wie meines im Tragetuch. Es liegt greinend im Schmutz und zerrt am Rock der Mutter, während jene handelt, Geldscheine entgegennimmt, volle Tüten den Kunden überreicht. Das Kind ist immer dabei, denke ich. Diese Frau geht weiter ihrer Arbeit nach – sie hat vermutlich gar keine andere Wahl. Dieses Bild bleibt mir, als die Tomaten- und Zwiebelberge schon wieder verblassen.” (Anka Falk)

 

Wer während einer Reise, einem Auslandsaufenthalt oder überhaupt einer Feldforschung Notizen machen möchte, wird sich früher oder später entscheiden müssen: Und was notiere ich? Was lasse ich weg? Worauf fällt mein Blick? Was blende ich aus? Oft sind die Eindrücke so vielfältig, dass es schwer sein kann, diese Entscheidungen zu treffen. Da sind Farben und Formen, fremdes Essen und kuriose Gegenstände, kleine Episoden und Erlebnisse mit Menschen, fremde Pflanzen, Lichtverhältnisse, Alltagsrituale, Düfte, Geräusche, ulkige Verpackungen und vieles mehr.

 

Prinzipiell sind zwei Vorgehensweisen denkbar:

 

(1) Ich kann ohne definierten Fokus beginnen und erst einmal alles notieren, was mir auffällt. So entsteht eine zunächst offene Notationsform, eine wilde Materialsammlung, aus der sich dann Themen und Schwerpunkte herauskristallisieren können. Denn was ich notiere, wird offenbaren, welcher Blinkwinkel selektiert, wie beispielsweise der Blick der Mutter beim Gang über den Markt. Beginnen Studierende mit einer solch offenen Form der Beobachtung, müsste dann allerdings zeitnah in einem Coaching- oder Supervisionsgespräch geklärt werden, welche Beobachterperspektive in dem gesammelten Material schlummert. Bezogen auf den Gang über den Markt könnte nun entschieden werden, Beobachtungen zum Thema Mutter-Kind-Beziehung in Indien zu sammeln. Was aus intuitiv geführten Notizen entstehen kann, zeigt Lea Leuenburgers Format Entlang dem Weg.

 

(2) Die zweite Möglichkeit ist, sich von vornherein festzulegen, welche Beobachterperspektive gewählt wird: Anna Studer etwa recherchierte während ihrer Bachelorarbeit auf ihrer Polenreise nach Lebenspendlerinnen. Dann wird von vornherein stärker gefiltert. Möglicherweise zeigt sich aber auch nach den ersten Tagen oder Wochen vor Ort, dass der gewählte Filter vor Ort gar keinen Sinn macht, nicht möglich ist, nicht mehr passt oder relevant erscheint. Dann muss die Fragestellung angepasst werden.

 

Natürlich ist es auch möglich beide Verfahren zu kombinieren, z.B. zu einem bestimmten Thema zu schreiben, dann aber intuitiv und ohne Filter zu fotografieren oder umgekehrt. Noemi Scheurer wählte eine solche offene Notationsform während ihrer relativ kurzen Reise und entwickelte hierbei das Zeichnen zu einer Form der Interaktion mit den Menschen vor Ort und der anschaulichen Reflexion, die sie später in ihren Illustrationen zum Travel Kit weiter entwickeln konnte.

 

In jedem Fall gilt: Vollkommene Offenheit ist ein Mythos. Unsere Wahrnehmung selektiert. Die Frage ist nur, inwieweit uns das bewusst ist. Oder ob wir es selbst in unseren Notizen erkennen können.