Travelogue

Zeichnen als Notationsform – den Ort in die Zeichnung einfliessen lassen

„Ich mochte das Zeichnen. Ich mochte es, weil es meine ganze Konzentration erforderte. Weil es nicht wichtig war, wie lange es genau dauert oder wo wir uns gerade befanden. Weil ich den Anspruch, alles zu dokumentieren von Anfang an aufgeben musste. Weil in den Strichen, die nicht perfekt sind, ich bin. Und weil manchmal die Person, die ich gezeichnet habe auf meinem Papier gut zwanzig Jahre älter aussieht, als sie in Wirklichkeit ist – und das die perfekte Unterhaltung und Erheiterung für die Gruppe um mich herum wurde. Weil es sich so anfühlte, als ob ich etwas geben konnte, wenn auch einfach meine Zeit und Aufmerksamkeit und das Risiko einer Zeichnung. Weil ich ganz bewusst beobachten, auswählen, erzählen und zeichnen durfte. Ich finde es schön zu beobachten, wie sich mein Zeichnen schon nur über den Zeitraum dieser zwei Wochen verändert hat. Einerseits denke ich, wurde mein Beobachten besser und die Angst vor dem Zeichnen kleiner. Andererseits bin ich auch überzeugt, dass es unabhängig von den Fähigkeiten des Zeichnenden Zeit braucht um sich an einem Ort zurecht zu finden um dann den Ort und die Menschen in die Art der Zeichnung einfliessen zu lassen. Etwas davon sehe ich ansatzweise in den Zeichnungen bei denen ich mit verschiedenen Stiften und Überlappungen begann zu arbeiten.“ (Noemi Scheurer, Reisedokumentation 2016)

Noemi Scheurer unternahm eine Reise nach Nigeria, für ein Theaterprojekt. Einerseits arbeitete sie an diesem konkreten Projekt und sammelte Material für eine Ausstellung, andererseits notierte sie ihre Beobachtungen zeichnenderweise. Indem sie die Zeichnungen den Gezeichneten zeigt, entsteht Dialog. So wird die Arbeit mit dem Bleistift nicht nur ein Notieren der eigenen Wahrnehmung, sondern knüpft Beziehungsfäden zu den Menschen vor Ort, wird zum Gegenstand von Interaktion: So sehe ich dich. Wie siehst du dich? Wie siehst du mich? Das Zeichnen wird performativ, es zeigt die Subjektivität des Zeichnenden ebenso wie die des Gezeichneten. Es zeigt das Prozessuale, Offene, Verspielte in der Wahrnehmung des Anderen:

 

 

„Mit überkreuzten Beinen sitze ich am Boden, im Staub. Es muss kurz nach fünf Uhr abends sein, denn die Sonne verschwindet schon fast am weiten Horizont, hinter den flachen Hügeln, im Dunst. Mir gegenüber, auf einem Baumstamm, sitzt Fadi. Vor ihr steht ein schwarzer Eimer, darin kleine rote Peperoni, je vier oder fünf in Plastiksäcken abgepackt. Fadi hat auch heute wieder versucht, sie zu verkaufen. Über uns breitet sich das Blätterdach eines grossen Baumes aus. Neben uns, vielleicht zehn Schritte entfernt, steht das kleine Nähatelier aus Wellblech – doch die Näherin ist bereits nach Hause gegangen, und das Rattern der Nähmaschine ist verstummt. Würde ich mich umdrehen, sähe ich die zwei grossen schwarzen Wassertanks, dahinter die erste Reihe der hellen Lehmhütten von Gurku. Langsam beginnen die Grillen zu Zirpen – ab und zu brummt auch ein Motorrad in der Ferne. Vor allem aber höre ich die verschiedenen Gespräche – manchmal wohl eher Debatten, die um uns herum stattfinden. Dazwischen die fröhlichen Rufe von Kindern, die am Spielen sind.

 

Mit Händen und Füssen – oder eigentlich mit Heft und Farbstift habe ich Fadi zuvor gefragt, ob ich sie abzeichnen darf. Sie hat zugestimmt und sich noch einmal aufrecht auf den länglichen Holzstamm gesetzt. Wie immer, bevor ich die ersten Striche auf das etwas dickere Papier in mein Heft gesetzt habe, breitet sich in mir kurz Panik aus. Am liebsten würde ich das Heft kurzum zuklappen und einfach ein wenig mit meinem Gegenüber plaudern. In diesem Fall wäre das jedoch schwierig. Meine Hausa-Kenntnisse reichen nur knapp über die morgendliche «Inakwana?» – «Laffia. Godyia?» Konversation hinaus. Und es ist gut möglich, dass Fadi mehr Sprachen beherrscht als ich – vielleicht noch Igbo, vielleicht noch Marqui. Aber Englisch spricht sie nicht.

 

Ich nehme meinen blauen Farbstift in die Hand. Über die letzte Woche begann ich, dieses kleine Stück Holz und Graphit zu mögen. Es war Ausgangslage für manche gute Begegnung. Ich schaue Fadi an, versuche, ihre Gesichtsform zu erkennen, und beginne dann bei der linken Wange. Die Gesichtsform zuerst, dann das schwarze Kopftuch; vom Kopftuch zu den Schultern, hinunter zu den Beinen; der Plastikeimer, der Baumstamm; die Hände lasse ich mal noch aus, und gehe, führe den Farbstift zurück zum Gesicht. Schaue wieder auf. Fadi sitzt ganz still da, beobachtet mich, wie ich sie beobachte, und lächelt mir aufmunternd zu. Die Aussenform der Augen. Rund. Von den Augen hin zur Nase. Immer wieder wandert mein Blick von meinem Heft zu Fadi, dann wieder zum Heft. Als ich das nächste Mal aufschaue, bemerke ich, dass sich mehrere Männer und Kinder um uns gruppiert haben. Worüber sie diskutieren glaube ich zu wissen, ihr Gestikulieren verrät es vielleicht. Doch ich möchte verstehen, was sie genau sagen. Ich konzentriere mich wieder auf Fadis Wangen, auf die ganz feinen Augenbrauen. Mein Blick wandert wieder, wieder zurück auf mein Papier. Ihre Arme hat sie gekreuzt über den Beinen. Ich versuche mich an den Händen, an den knochigen Fingern.

 

Es ist dunkel geworden. Um uns herum steht ein gutes Dutzend Menschen. Es ist schwierig, noch etwas zu sehen. Ich schaue Fadi wieder ins Gesicht, in die Augen, wieder aufs Papier. Ihre Pupillen sind auf meinem Papier noch weiss. Ich werde sie ganz am Schluss zeichnen. Ich versuche mich noch einmal an ihrer rechten Hand – den Radiergummi habe ich jedoch mit Absicht nicht eingepackt. Ein letzter Blick zu Fadi. Die Pupillen. Dann strecke ich ihr rasch mein Heft entgegen und sage «This is you» etwas Besseres fällt mir nicht ein. Sie lächelt, nickt leicht. Ich stehe auf und spüre erst jetzt, dass mein Rücken vom langen Sitzen schmerzt. Die Männer, die uns zugeschaut haben, nehmen Fadi das Heft aus der Hand und betrachten die Zeichnung, diskutieren, gestikulieren wieder. Jetzt will ich’s wissen: «How do you like it?» frage ich. «Yes, it’s very good!». Ihre Meinungen, die sie zuvor in ihrer eigenen Sprache einander kundgetan haben, hätten mich mehr interessiert. Ich freue mich aber dennoch über das gut gemeinte Kompliment.

 

Ich krame mein Audioaufnahmegerät hervor. Vielleicht kann ja jemand übersetzen.

Viel mehr als das Alter ihrer Kinder und den Preis der «Pepe» erfahre ich aber nicht. Immerhin aber, wie ich ihren Namen schreibe.“ Noemi Scherer (2016) Reisedokumentation.